Offener Brief:
Berlin, 14.12.2021
An die Berliner Koalitionsparteien,
das Bündnis #Gegenberufsverbot fordert die neuen Koalitionsparteien auf, das Berliner Neutralitätsgesetz umgehend an die höchstrichterliche Rechtsprechung anzupassen, die Diskriminierung von muslimischen Frauen* zu beenden und damit eine betroffenenorientierte bessere Antidiskriminierungspolitik in Berlin anzugehen.
Der Entwurf zur Beschlussfassung des Koalitionsvertrages 2021–2026 sieht unter dem Punkt 13 vor „Die Koalition passt das Berliner Neutralitätsgesetz in Abhängigkeit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an“. Diese Formulierung suggeriert, dass über das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen* noch Streit bestünde, obwohl dieser rechtlich längst entschieden ist!
Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 27.1.2015 bereits entschieden, dass ein Verbot des Tragens eines Kopftuchs durch eine Lehrerin nicht pauschal zum Zwecke der abstrakten Gefahrenabwehr erfolgen darf, sondern nur bei einer konkreten Störung des Schulfriedens. Alle Bundesländer haben den Vorgaben des höchsten Gerichts Rechnung getragen, nur Berlin nicht. Das Berliner Neutralitätsgesetz wurde nicht an die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts angepasst. Die Diskriminierung vor allem muslimischer Lehrerinnen wirkt fort.
Viele Betroffene haben sich gegen die Diskriminierung gewehrt und ihr Recht auf gleichberechtigten Zugang als Lehrende an Berliner staatlichen Schulen eingeklagt.
Es gab außergerichtliche Streitbeilegungen durch die Zahlung von Etschädigungen seitens der Bildungsverwaltung, auch Urteile des Landesarbeitsgerichts Berlin – Brandenburg in den Jahren 2017 und 2018. Schließlich verständigte sich im Jahr 2019 die damalige Rot-Rot-Grüne Koalition darauf, die Streitfrage abschließend gerichtlich klären zu lassen. Daraufhin legte die damalige SPD-geführte Bildungsverwaltung Revision gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts vor dem Bundesarbeitsgericht ein.
Das Bundesarbeitsgericht hat am 27.08.2020 abschließend die Verurteilung des Landes Berlin zur Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgrund der Verweigerung der Einstellung einer angehenden Lehrerin mit Kopftuch bestätigt. Das Gericht hat die Bildungsverwaltung an die langjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erinnert: Ein pauschales Kopftuchverbot ist verfassungswidrig.
Nichts ist nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Richtung bessere Antidiskriminierungspolitik durch die Anpassung eines diskriminierenden Gesetzes passiert. An Verständigungen und Abmachungen müssen sich politische Entscheider*innen wohl nicht halten?! Stattdessen hat der damalige SPD-geführte Bildungssenat den Streit politisch verschleppt und damit die diskriminierende Einstellungspraxis fortgeführt.
Keine einzige Lehrerin mit Kopftuch wurde durch den Bildungssenat eingestellt. Viele gut qualifizierte Frauen, die Mangelfächer unterrichten und eine Einstellungsgarantie haben, werden pauschal aufgrund ihrer muslimischen Glaubensausübung abgelehnt. Die Bildungsverwaltung verstößt damit schwerwiegend gegen die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts. Gut qualifizierte Frauen, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Quereinsteigerinnen und Sozialpädagoginnen, die Berlin so dringend braucht, werden pauschal aufgrund des Kopftuches abgelehnt.
Dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts kommt über den Einzelfall hinaus eine grundsätzliche Bedeutung zu: Das sog. Neutralitätsgesetz muss einschränkend ausgelegt werden, eine pauschale Ablehnung aufgrund des Tragens eines Kopftuches ist nicht gerechtfertigt.
Der Streit wurde durch die durch das Land Berlin eingereichte Anhörungsrüge gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wegen Verletzung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör fortgesetzt. Auch dieser juristische Schritt wurde durch das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 27.05.2021 zurückgewiesen. Die Senatsverwaltung führte unter anderem an, das Bundesarbeitsgericht habe keinen richterlichen Hinweis darauf erteilt, dass und warum es dem Berliner Neutralitätsgesetz an der unionsrechtlichen Kohärenz fehlen solle und weshalb keine Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof erforderlich sei. Das Gericht wies daraufhin, dass es sich mit den vom Senat in der Gerichtsverhandlung angesprochenen Aspekten ausführlich befasst habe, allerdings nicht mit dem vom Bildungssenat gewünschten Ergebnis. Insoweit rüge die Bildungsverwaltung lediglich eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Gericht und keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Nach dieser erneuten Niederlage hat der damalige SPD-geführte Bildungssenat entgegen großer Bedenken von Politiker*innen, Jurist*innen, Antidiskriminierungsorganisationen und vieler anderer eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts und gegen den Beschluss zur Anhörungsrüge beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, auf welche sich nun die neuen Koalitionsparteien stützen.
Im aktuellen Koalitionsvertrag der Berliner Koalitionsparteien ist festgehalten, dass sie das diskriminierende Neutralitätsgesetz “in Abhängigkeit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts” anpasst. Die Formulierung ist irreführend, denn es klingt zunächst so, als würde sich Berlin endlich an die längst überfällige Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2015 wagen.
Doch gemeint ist offenbar die noch ausstehende Rechtsprechung bezüglich der kürzlich eingereichten Verfassungsbeschwerde, mit der, der Bildungssenat gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vorgeht.
Mit dieser Formulierung entziehen sich die Koalitionsparteien ihrer Verantwortung und ignorieren, dass die Bildungsverwaltung mit ihrer diskriminierenden Praxis rechtsstaatliche Prinzipien missachtet. Sie verkennen, dass es eine taktische politische Verschleppung der Pflicht zur Änderung des Neutralitätsgesetzes ist. Bis das Bundesverfassungsgericht allein über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde entscheidet, können einige Jahre vergehen. In all dieser Zeit wird der Bildungssenat, der auch in der neuen Legislaturperiode von der SPD-geführt wird, seine rechtswidrige Praxis voraussichtlich fortsetzen.
Schon im Vorfeld wurden durch viele Politiker*innen und ihren Parteien große Bedenken geäußert, die wohl in den Koalitionsverhandlungen verstummt sind. Wir erinnern aber höflich hieran und zitieren einige von ihnen:
- Dirk Behrendt (damaliger Justizsenator): „Welche Grundrechte des Landes Berlin sollen hier eigentlich betroffen sein?“ „Das ist sinnfreie Prozesshanselei. Wir sind verwundert, dass neuerdings Verfassungsbeschwerden ohne Senatsbeschluss eingereicht werden.“ „Die Bildungsverwaltung ist mit ihrer Rechtsauffassung beim Neutralitätsgesetz durch alle Instanzen unterlegen. Es ist bedauerlich, dass die Bildungsverwaltung trotz rechtlicher Bedenken an ihrem Vorgehen festhalten möchte.“
- Sebastian Brux (damaliger Sprecher Justizsenator): „Die Ankündigung ist nicht abgesprochen und anders verabredet. Es gibt eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten und umzusetzen, statt den Rechtsstreit ohne jede Erfolgsaussicht fortzusetzen.“
- Klaus Lederer (damaliger Bürgermeister, Kultursenator, Jurist): „Verfassungsbeschwerden können nach meiner Kenntnis nicht vom Staat eingelegt werden, sondern von Bür gern, die geltend machen, der Staat habe sie in Grundrechten verletzt.“ „Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht zu dieser Frage bereits umfassend und klar entschieden. Es wäre an der Zeit, dass die Bildungsverwaltung diese Rechtsprechung nach diversen Niederlagen vor Fachgerichten endlich ernst nimmt, anstatt hier auf Zeit zu spielen.“
- Sebastian Schlüsselburg (Fraktion Die Linke, Rechtspolitiker): „Ich wünsche Frau Scheeres eine gute Reise auf ihrer Irrfahrt nach Karlsruhe. Sie wird aber erfolglos bleiben. Statt verfassungsrechtlicher Irrfahrten sollten wir jetzt die Vorgaben des Bundesarbeits- und Bundesverfassungsgerichts befolgen und das Neutralitätsgesetz zur Herstellung des Rechtsfriedens maßvoll anpassen.“
- Sven Kohlmeier (SPD, Rechtsexperte): „Ich bin überrascht, dass man diesen Weg gehen möchte. Ich halte diesen aus rechtlichen Gründen nicht für Erfolg versprechend.“
Für die Betroffenen ist es eine herbe Enttäuschung, dass der Berliner Bildungssenat trotz der eindeutigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts an seiner rechtswidrigen Praxis festhält. Für die Betroffenen bedeutet es, dass sie ihrem erlernten Beruf nicht nachgehen können, weil sie aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen – eine Entscheidung, die ihnen im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Religionsfreiheit zusteht. Dass ihnen nur wegen des Tragens eines Kopftuchs ihre Neutralität gegenüber den Schüler*innen abgesprochen wird, stößt auf Unverständnis und Ärger.
Für Berlin, der besonders divers und weltoffen geltenden Hauptstadt, ist es ein Armutszeugnis, dass sich die religiöse Vielfalt der Schüler*innenschaft nicht in den Lehrerzimmern widerspiegeln darf.
Der Fehler der scheidenden Landesregierung bzgl. des diskriminierenden Neutralitätsgesetzes darf sich in der neuen nicht weiter fortsetzen. Es liegt daher in der Verantwortung der neuen Koalitionsparteien hier aktiv das Berliner Neutralitätsgesetz anzugehen und dafür zu sorgen, dass sich das Land Berlin an Recht und Gesetz hält.
Mit freundlichen Grüßen
Bündnis #Gegenberufsverbot