Antimuslimischer Rassismus in der Bundesrepublik

Seit einigen Jahren ist in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, von Islamophobie die Rede). Der Begriff suggeriert eine übersteigerte, krankhafte Angst vor dem Islam. Erklärt wird dieses Phänomen damit, dass der Islam gefährlich (Terroranschläge, Atombombe) und fremd (Parallelgesellschaften, Desintegration) sei. Verschiedene Nuancen, die etwa versuchen, einen islamistischen von einem modernen Islam zu unterscheiden oder berechtigte Islamkritik von überzogener zu differenzieren, fokussieren dennoch alle den Islam bzw. einige Strömungen oder Praktiken desselben als das eigentliche Problem. Demgegenüber kehrt der Begriff des antimuslimischen Rassismus die Perspektive um und fragt danach,

unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten Menschen, die bisher als Gastarbeiter/Flüchtlinge, Ausländerinnen und Fremde markiert waren und ihre Diskriminierung mit entsprechenden Erklärungen begründet wurde (gehören nicht hierher, nehmen uns die Arbeitsplätze weg, leben von unserer Sozialhilfe, machen unsere Frauen an etc.), nun als Muslime wahrgenommen und diskriminiert werden. Hierzu wird skizziert, welche Themen im antimuslimischen Rassismus verhandelt werden. Sie geben Aufschluss darüber, wie diese Form der Diskriminierung historisch, politisch und gesellschaftlich verankert ist. Daraus können Schlussfolgerungen abgeleitet werden, auf welchen Ebenen und in welchen Bereichen gegen die Diskriminierung von Muslimen vorzugehen ist.

Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, können Diskriminierungserfahrungen in allen Bereichen ihres Lebens machen: in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, in der Ausbildung, auf dem Arbeitsplatz und beim Jobcenter, bei der Wohnungssuche, beim Einkaufen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Diskotheken, auf Jahrmärkten, beim Zeitunglesen und Fernsehen, in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in Arztpraxen und Anwaltskanzleien, bei der Polizei, in Ämtern und Behörden usw. Die Intensität und Häufigkeit sowie die Folgen können sehr unterschiedlich sein, ebenso die Umgangsweisen damit: Übersehen und Überhören, Anlässe meiden, sich verbal oder physisch wehren, sich lustig machen, in Frage stellen, sich distanzieren, sich assimilieren, sich zurückziehen, krank oder aggressiv werden, Klage einreichen, sich verbünden, auswandern usw. Aktuell wird zwar der Islam als zentrales Differenzierungsmerkmal zwischen uns und den Anderen immer wieder zitiert. Die Vorwürfe, die Muslimen gemacht werden, haben aber nur deswegen etwas mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Religionszugehörigkeit und religiöser Praxis zu tun, weil eine Verknüpfung zum Islam diskursiv, also im Reden darüber und der Begründung dessen, hergestellt wird. Insofern ist der Islam, wie er derzeit (nicht nur) in der Bundesrepublik im hegemonialen Diskurs ins Gespräch gebracht wird, eine gesellschaftliche Konstruktion. Die Themen, um die es geht, verdeutlichen das.

Schlechte Schulabschlüsse, Arbeitslosigkeit, Wohnverhältnisse, soziale Trennung der Lebenswelten, Kriminalität, Drogen, häusliche Gewalt sind einige der Themen, die als Missstände identifiziert und mit dem Islam begründet werden. Schon die Au6istung zeigt, dass es sich hierbei um soziale und gesellschaftliche Themen, nicht um religiöse handeln muss. Um diesen Widerspruch zu glätten, wird die argumentative Lücke mit Hinweis darauf geschlossen, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern darüber hinaus bzw. als Religion auch eine Kultur sei, die zudem beanspruche, Gesellschaft und Politik zu bestimmen. Da es auch einige Muslime gibt, die diese Bedeutung teilen, kann mit Verweis auf sie die allumfassende Muslimisierung sozialer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Themen bestätigt werden. Andere Stimmen werden nicht gehört bzw. als unmaßgeblich marginalisiert oder als westlich-moderne aus dem eigentlichen Islam herausgelöst. Auch in diesen Bewertungen kommt zum Ausdruck, dass der Islam im Wesentlichen und seinem Wesen umfassend und problematisch ist. Diese Wahrnehmung hat eine lange Geschichte bzw. Bezüge zu verschiedenen historischen Ereignissen und Entwicklungen, die in aktuelle Islamdiskurse hineinreichen.

Als monotheistische Religionen mit großer Ausbreitung und politischer Bedeutung sind Christen und Muslime im Mittelalter immer wieder aufeinander gestoßen. Es gab kriegerische Auseinandersetzungen (etwa die Kreuzzüge), aber auch religiösen, kulturellen und materiellen Austausch in beide Richtungen. Noch heute zeugen Sprache, Kunst, Architektur, Musik, Literatur, Naturwissenschaften, Philosophie und religiöse Praktiken von der gemeinsamen Geschichte. Studien zum Orientalismus haben die historische Entwicklung und Bedeutung entsprechender Diskurse gut recherchiert. Sie widerlegen die gängige Formel, wonach uns der Islam so fremd und erst durch die Arbeitsmigration nach Europa gekommen sei. Die gegenseitige Abgrenzung und Vereinnahmung in Diskursen und Praktiken erfuhr jedoch durch verschiedene historische Ereignisse eine zunehmend asymmetrische Entwicklung. An Sklaverei und Kolonialismus waren zwar auch Muslime (Osmanisches Reich, Arabische Herrscherhäuser) tatkräftig beteiligt, die Aufteilung und Ausbeutung Afrikas in systematischem und großem Ausmaß blieb jedoch den Christen vorbehalten. Die Gegenüberstellung von Muslimen und Christen folgt nicht unbedingt der Logik der damaligen Akteur_innen, Rasse war hier der zentrale Bezugspunkt. Dennoch kam der Religion eine große Bedeutung zu in der Vorbereitung und Legitimierung von Ausbeutung und Zerstörung. Obwohl sowohl muslimische als auch christliche Herrscher_innen versklavten und kolonisierten, verschob sich im Prozess der Kolonisierung das Verhältnis zueinander zunehmend zu Gunsten der Christen, die bald die Welt unter sich aufgeteilt hatten. In vielen Entkolonisierungskämpfen, insbesondere in solchen Gesellschaften, in denen die christliche Missionierung in weniger großem Maße erfolgreich war, spielte der Bezug zum Islam eine bedeutende Rolle und auch heute noch beziehen viele Freiheitskämpfer_innen ihre Gegenargumente und Gegenmacht aus dem Islam als adäquates Bezugssystem zur Zurückdrängung westlich-christlicher Vorherrschaft oder als Gegenmodell dazu.

Religionskriege, Sklaverei und Kolonialismus sind welthistorisch gesehen zentrale Erlebnisse. Für die Bundesrepublik kommt als weiteres Ereignis der Nationalsozialismus hinzu, der in seiner Bedeutung für die hiesige Gesellschaft als derart einschneidend gedeutet wird, dass daneben häufig die anderen Ereignisse zu verschwinden drohen. Tatsächlich kann ohne Bezüge zum Nationalsozialismus kein Phänomen in der Bundesrepublik ausreichend nachvollzogen werden. Als historisches Ereignis hat es sich tief in das kollektive Gedächtnis (nicht nur) der Deutschen eingeprägt und ist im gesellschaftlichen Kontext stets copräsent. Der Nationalsozialismus ist nicht nur deswegen für das Verständnis des antimuslimischen Rassismus wichtig, weil auch damals eine Gruppe als religiöse naturalisiert, kulturalisiert und zum Sündenbock erklärt wurde. Der Nationalsozialismus ist auch in seinen Folgen wichtig: Bedarf an Arbeitsmigration zum Aufbau des Landes, Organisierung von Arbeitsmigration mit Bezügen zu Zwangsarbeit und Kolonialismus, Zustimmung zu und Einwanderung von Juden in einen jüdischen Staat Israel auf palästinensischem Territorium, politische Parteinahme für den Staat Israel durch die Bundesrepublik, politische Parteinahme für die Palästinenser durch die DDR. Diese Folgen des Nationalsozialismus sind insofern für den aktuellen Islamdiskurs wichtig, weil die Muslime, die bisher und bislang als Türken und Araber für die Probleme, die sie haben (wenn sie sie haben), verantwortlich gemacht werden, als Gastarbeiter und Nahost6üchtlinge eingewandert sind und hier seit Generationen leben. Die Einwanderer_innen aus der Türkei (und anderen Ländern) wurden also aktiv angeworben, es wurde nur jenen Gastarbeiter_innen die Einreise gestattet, die der hiesige Arbeitsmarkt benötigte. Und auch die Fluchtbewegungen aus dem Libanon, Jordanien und den palästinensischen Gebieten kann nicht ohne Bezüge zur hiesigen Gesellschaft und Geschichte nachvollzogen werden, der Nahostkon6ikt hängt kausal mit dem europäischen Antisemitismus zusammen. Insofern sind Arbeitsmigration und Fluchtbewegungen aus dem Nahostkonflikt mit dem Postnationalsozialismus verknüpft, der antimuslimische Rassismus, der Türken (Gastarbeiter) und Araber (Flüchtlinge) trifft, ist auch diskursiv mit dem Nationalsozialismus verklammert.

Ein weiteres wichtiges historisches Ereignis, das dazu beiträgt, den aktuellen antimuslimischen Rassismus zu verstehen, ist das Ende des Kalten Krieges zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Wurde bis Ende der 1990er Jahre die Notwendigkeit nach Aufrüstung, Atombombe und starkem Staat mit der drohenden Gefahr durch den Kommunismus begründet, so werden seitdem westliche Stärke und Vorherrschaft mit der Gefahr durch den Islam begründet. Der Osten wurde durch den Orient abgelöst, der Antikommunismus durch den Antiislamismus zur Legitimation außen und innenpolitischer Repressionen, Ein- und Ausgrenzungen. Nicht erst seit dem Anschlag am 11. September 2001 werden politische Interventionen mit der Angst vor dem Islam begründet, dies ist bereits seit den Golfkriegen Anfang der 1980er Jahre der Fall. In diesem Zusammenhang wurden in politischen Diskursen erste Bezüge zum Islam hergestellt, neben solchen zu Arabern (auch gegenüber nicht-arabischen Ländern) und Orientalen (die als Nicht-Westen definiert sind).

Die Gleichsetzung dieser Zuordnungen ist auch heute noch zu finden, wobei vom antimuslimischen Rassismus auch Nicht-Araber (etwa Türk_innen oder Konvertit_innen) und Nicht-Muslime (etwa christliche, jüdische, atheistische etc. Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden) betroffen sind und Muslime auch mit anderen Rassismen konfrontiert sein können (etwa Pakistaner_innen oder Sudanes_innen). Insofern wären noch weitere historische Verknüpfungen heranzuziehen, um das Phänomen in seiner Gänze und Breite nachvollziehen zu können.

Türken und Araber sind im aktuellen hegemonialen Islamdiskurs das Prototyp des Muslim und der Muslima schlechthin. Zusätzlich zu den Problemen, die sie in ihrem Alltag haben durch eine Generationen überdauernde Ausgrenzungspolitik, die mit dem Erhalt der Rückkehrfähigkeit der Flüchtlinge, Gastarbeiter und ihrer Kinder begründet wurde und ihre Ausbeutung als billige Arbeitskräfte und Reservearmee ermöglicht, kommen nun neue Probleme hinzu, die mit ihrer Diskriminierung als Muslime zusammenhängen. Der Aufbau eigener Strukturen gewinnt auf diesem Hintergrund eine wichtige Bedeutung, um Wohnung, Arbeit, Kinderbetreuung und ärztliche Versorgung zu bekommen, ohne sich auf eventuelle Diskriminierung einstellen und wiederholte Diskriminierungserfahrungen machen zu müssen. Selbstorganisationen sind ein wichtiger Beitrag zu Antidiskriminierung und Partizipation, die sich darin aber nicht erschöpfen. Notwendig sind darüber hinaus Aktivitäten in all jenen Bereichen und auf all den Ebenen, die im hegemonialen Islamdiskurs islamisiert und kulturalisiert werden, tatsächlich aber gesellschaftliche Probleme und Quellen von Diskriminierungserfahrung sind. Insofern tragen auch Initiativen zur Zurückdrängung von institutioneller Diskriminierung in der Schule, von Benachteiligung bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche, zur Reflexion von Medienberichterstattung usw. dazu bei, antimuslimischem Rassismus zu begegnen. Religion kann dabei eine Rolle spielen, insbesondere dann, wenn diesbezügliche Verunglimpfungen, Leerstellen und Einseitigkeiten zur Verschärfung der Probleme beigetragen haben. Und Religionsgemeinschaften können als Ansprechpartnerinnen genutzt werden, insbesondere dort, wo sie Zugang zu Communities und einzelnen Menschen haben, die sich auf Grund von Diskriminierungserfahrungen von der Mehrheitsgesellschaft abgewandt haben. Ressourcen- und Netzwerkorientierung, Empowerment und Partizipation sind immer wieder als geeignete Konzepte von sozialen Bewegungen und Sozialer Arbeit hervorgehoben worden. Diese Ansätze gilt es auch in der (politischen und materiellen) Förderung von Aktivitäten von Muslimen und in der Arbeit mit Muslimen ernst zu nehmen. Religion sollte aber nicht überstrapaziert und auch nicht im Fokus der Auseinandersetzung stehen, denn die genannten Probleme hängen nicht mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Religionszugehörigkeit von Muslimen zusammen, sondern sind politische, gesellschaftliche und soziale Probleme, die als solche anzugehen sind.